Seltsame Borkumer Bräuche

Seltsame Borkumer Bräuche

Vom Winkeln und Betnehmen

Die Familienplanung im 18. Jahrhundert war aufgrund des geographischen Raumabstandes der Borkumer in den Frühjahrs- und Sommermonaten im Regelfall auf den Winter komprimiert und erforderte eine Art Speeddating. Der durchschnittliche Borkumer Seemann ist ja doch eher schüchtern veranlagt, daher oblag dieses Unterfangen der holden Damenwelt, die ja bekanntermaßen deutlich kompetenter in sozialen Angelegenheiten ist. So kam es, dass die Mädels sich zusammenhockten und in einem konspirativen Treffen die Jagd auf ihre Beute planten. So war es als erstes erforderlich, ein geeignetes Terrain vorzubereiten. Die Eltern einer der zukünftigen Commandeursfrauen wurden für den anvisierten Abend zu den Nachbarn umdirigiert. Bevor die Eltern jedoch das Haus verließen, wurden die vom Jagdfieber gepackten Frauen zur Tugendhaftigkeit ermahnt, mit dem Hinweis, dass die Balz mit dem Ende der zwölften Stunde beendet zu sein hatte. 

Dorfstraße mit Altem Leuchtturm

Nachdem jetzt die Jagdgründe vorbereitet waren, wurden die zukünftigen Ehemänner zu einem unverfänglichen Abend eingeladen. Die Jägerinnen bereiteten sich auf ein eins zu eins Gefecht vor, so wurde immer eine gleiche Anzahl an Junggesellen eingeladen, um ein ausgeglichenes Verhältnis zu haben. Kam jedoch ein nicht Eingeladener zum Treffen, wurde dieser wieder nach Hause geschickt. Die Figuren auf dem Schachbrett waren aufgestellt und der Abend wurde in „Bunter Borkumer Reihe“ zünftig calvinistisch begonnen. Auf der einen Seite saßen die Herren, auf der anderen die Damen. Man saß gesellig beisammen, trank Tee. Die jungen Menschen kamen sich näher, man scherzte, es wurden zarte Bande geknüpft. Die Tugendhaftigkeit sollte gewahrt bleiben, so wurde der Abend meist vor dem Ende der zwölften Stunde aufgelöst. Da man in den Winkeln der Häuser zusammen saß, wurde diese Form des Speeddating auch das „Winkeln“ genannt. 

Es ist natürlich auch des Öfteren vorgekommen, dass jetzt ein heißblütiger Junggeselle, der der Gastgeberin zugeneigt war, sich nun nicht auf den Weg nach Hause begab. Das Winkeln war im Begriff, in die zweite Runde zu gehen. Die Tugendhaftigkeit lief Gefahr über Bord zu gehen. Aber soziale Kontrolle in Dörfern mit knapp 300 Einwohnern sieht ein wenig anders aus. Die Nachbarschaftswache „Moral und Keuschheit“ e.V. umstellte jetzt das Anwesen des lüsternen Pärchens, um Schlimmeres zu verhindern. Türen und Fenster wurden blockiert und überwacht, um eine Flucht des hormongesteuerten Hasardeurs zu verhindern. Der kräftigste Mann der Nachbarschaftswache wurde jetzt nach vorne geschickt, um an der Türe zu klopfen und den liebestollen Jüngling herauszubitten, er möge sich erklären. Sich jedoch der Inquisition der anwesenden Borkumer zu stellen, tendierte bei dem unfreiwillig unterbrochenen Liebhaber (verständlicherweise) gegen Null. 

Ertappt

So kam es immer wieder vor, dass sich das so ins Rampenlicht gerückte Pärchen im Haus verschanzte, in der Hoffnung, der johlende Haufen würde die Lust an der Belagerung verlieren und unverrichteter Dinge wieder abziehen. Doch das Repertoire der Belagerer war groß: Es wurden jetzt Leute aufs Dach geschickt, um den Schornstein zu verstopfen, damit das Haus sich mit beißendem Torfrauch fülle. Die so geräucherten Liebenden verließen fluchtartig den Räucherofen, um vor dem Haus in Empfang genommen zu werden.

In die Fänge der Häscher geraten wird der Freier der jungen Frau zur Rede gestellt. Er möge sich erklären, wie er sich das in Zukunft so vorstellt. Frei nach dem Motto: „Wie sieht es denn aus mit heiraten?“

So in die Ecke gedrängt sagten viele natürlich: „Natürlich mache ich sie zur ehrbaren Frau, was denkt ihr denn von mir?“ Um den Wahrheitsgehalt der Aussage zu überprüfen und festzustellen, ob sich der junge Mann nur seiner Verantwortung entziehen wollte, wird die Antwort nun verifiziert, indem die Frau gefragt wird, ob das denn so auch stimme. Hier hatte  die Frau die einmalige Gelegenheit, aus dieser Situation herauszukommen und dem jungen Mann noch mehr Schwierigkeiten zu bereiten. 

Nur hätte sie seine Antwort entkräftet, wäre es ihr auch nicht mehr möglich gewesen, an einer weiteren gesellschaftlichen Veranstaltung teilzunehmen, denn sie wäre nie wieder zu einem Tinder-Abend eingeladen worden. Nachdem die Menge zufriedengestellt wurde, galt es jetzt, den Rest der Insel zu informieren. Nun begann die Prozession der Schadenfreude, die Menge zog jubelnd durch den Ort und fragte immer wieder „Well hebbt wie betnohmen?“ – aus vollen Kehlen klang der Name des Mannes. Daraufhin wurde gefragt „Well ist?“ – geantwortet wurde mit ihrem Namen. Als schlussendlich das ganze Dorf wach war endete die Prozession beim Pastoren. Der Prediger öffnete meist gegen 3-4 Uhr nachts die Tür, rieb sich verschlafen die Augen, wusste aber schnell die Situation zu deuten. Das Kirchenbuch kam auf den Tisch und das Aufgebot wurde umgehend in der kirchlichen Chronik niedergeschrieben. Am darauffolgenden Sonntag wurde die anstehende Hochzeit von der Kanzel heruntergepredigt. Ab jetzt war ein Rauskommen aus der Nummer unmöglich. 

Feuchte Verlobung

So kam es oft dazu, dass der ertappte Freier versuchte, sich unter fadenscheinigen Ausreden aus der Situation herauszuwinden. Das führte jedoch nur dazu, dass die Prozession einen anderen Weg nahm und als Ziel das „lange Wasser“ hatte. Dort angekommen bekam der junge Mann zwei „Entscheidungshilfen“ – ein langes Seil um den Brustkorb, ein weiteres um die Füße.  Derart verschnürt wurde er jetzt durch das „lange Wasser“ hindurchgezogen. Im Winter sind die Temperaturen witterungsbedingt natürlich deutlich niedriger, deshalb fiel die anschließende Frage etwas kürzer aus: „Und nu?“

War er jetzt willig, die Frau zu ehelichen, setzte die Prozession zum Pastoren ein mit sämtlichen Konsequenzen. Falls immer noch ein gewisser Widerstand bezüglich einer zukünftigen Eheschließung auftrat, begann das „Kielholen“ erneut, bis er letztendlich doch zusagte oder halt für immer schwieg. 

Blick aufs Lange Wasser

Ein Blick in die Kirchenbücher zeigt aber auch, Tod durch Waterboarding kam nicht vor. Im Gegenteil, das Betnehmen hat dazu geführt, dass während des Walfangs auf Borkum keine einzige uneheliche Geburt zu verzeichnen war. 

Diese und andere Geschichten erlebt ihr auf unserem Stadtrundgang zur Geisterstunde – bucht euer Ticket direkt. Wir freuen uns auf euren Besuch.

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