Neue Friesen braucht der Strand – Kapitel 6

Neue Friesen braucht der Strand – Kapitel 6

Der Krieg der Erbsen

1618 – Das Jahr der Fälle. In Prag fiel man aus diversen Fenstern, in Rom dagegen eher aus allen Wolken. Der Kaiser fiel mit seinen Vorstellungen von Toleranz zeitgemäß aus der Rolle und in der Folge fielen viele Adelige und royale Vertreter durch ungezügeltes Verhalten auf und neben den Schlachtfeldern auf. Dem einfachen Volk fiel es zu, sich zu entscheiden: plündern und brandschatzen oder geplündert und gebrandschatzt zu werden – meist aber beides.

Mittagszeit – In Emden fiel Okka Poppen, Folkeldis Poppens jüngstes Töchterlein wieder einmal mit der Tür ins Haus. „Diefmal kannft bu bie blöde Pür welbft flicken!“ raunte ihr Bruder Ommo mit vollem Mund und kaute weiter. Ihm missfiel Okkas ungestüme Art, die Aufmerksamkeit an sich zu reißen. „Ich bekomme ein Kind!“ krakeelte Okka in die Stube hinein und strahlte wie ein Weihnachtsbaum, der gerade Feuer gefangen hatte. „Wie konnte das denn passieren?“ posaunte ihre entgeisterte Mutter, allerdings ohne eine Antwort über technische Details zu erwarten.

Ommo versuchte ein Prusten mit vollem Mund zu verhindern.

„Von wem?“ war zwangsläufig Mamas zweite Frage und die erforderte eine Antwort. Okka dachte kurz mit gerunzelter Stirn nach – Mamas Gesichtsfarbe kehrte zurück. „Von Sunke Hanssen …“. Mama wurde wieder blass und stammelte, sich einem Schlaganfall nähernd, sie sei ja wohl von allen guten und weniger guten Geistern verlassen, Sunke sei schließlich verheiratet und bereits Vater von fünf Gören. Okka wandte ein, dass der Mann doch nun auch einmal ein wenig Spaß haben möchte und ihr das wirklich nichts ausmachen würde.

Ommo krallte sich ob der Neuigkeiten an seinem Erbsensuppenlöffel fest und versuchte verzweifelt den Überdruck in seinem Mundraum abzubauen, während sich unter leichtem Zittern seines Körpers die ersten Tränen manifestierten.

Mama hatte ihre Fassung wiedergewonnen und war bereit zum Großangriff. „Das, mein Kind darfst du deinem Vater selber erklären. Gnade dir Gott, wenn er nach Hause kommt. Die arme Frau Hanssen!“ Okka schaute zu ihrem Bruder, der gerade versuchte, sich ein süffisantes Grinsen zu verkneifen, welches die Erbsensuppe zwangsläufig über den Tisch verteilt hätte. Okkas Blick schwenkte zurück. „Och, der weiß das schon. Papa hat das ja selbst vermittelt und Sunkes Alte hat ja auch nichts dagegen.“

Ommo kam langsam an seine körperlichen Grenzen. Die Lippen zwar hielten dem unmenschlichen Druck stand, aber die ersten Erbsen bahnten sich hinterlistig den Weg zur Nase. Langsam bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn.

Mamas Blässe wich jetzt rapide einem Bordeauxrot. „Mama, geht es dir nicht gut? Setz dich erstmal.“ Mama japste gut hörbar nach Luft und suchte – vergeblich – nach angemessener Wortwahl und Lautstärke. Bevor Sie sich jedoch äußern konnte, wurde die Küchentür aufgestoßen und Papa stand gutgelaunt auf der Bühne. Mama mobilisierte ihre letzten Reserven und funkelte ihren Gatten aufs böseste an. Was ihm eigentlich einfiele, seine eigene Tochter an einen verheirateten Mann zu verschachern, warum sie davon nichts wisse, was die Nachbarn dazu sagen würden und wer diese bescheuerte Idee überhaupt gehabt habe.

Ommo suchte verzweifelt ein Behältnis für die Erbsensuppe, die in den Nasennebenhöhlen langsam einen Niesreiz auslöste. War die Katastrophe noch abzuwenden?

Papa resümierte:“ Also die Idee stammte von Sunkes Frau. Die wollte endlich mal ihre Ruhe haben. Bezahlt hat das natürlich Sunke – Ist ja nur einmal die Woche und bei Bedarf.“

Ommo nahm auf dem Stuhl eine Art Schutzhaltung ein…

Mama explodierte: „Auch noch gegen Geld? Das ist hier ja Sodumm und Gemurre“. „Sodom und Gommora“ verbesserte Papa.

Ommo hielt sich zwar die Hand vor den Mund, spürte aber bereits erste Erbsen zwischen den Fingern.

„Du hast doch gesagt, Okka soll endlich Geld verdienen…“

Ommos Augen röteten sich langsam wegen der platzenden Äderchen, während die grüne Suppe der Schwerkraft folgend zwischen den Fingern hindurch langsam nach unten tropfte.

Als Mamas Blutdruck begann, sich in nicht mehr messbare Sphären zu verabschieden, betrat Sunkes Frau die Küche mit ihrem Jüngsten auf dem Arm. „Moin, Folkeldis – Okka, kannst du mir das Kind nochmal führ eine Stunde abnehmen? Ich muss die Kühe melken.“ „Mach ich Frau Hanssen, Grüßen sie die Kühe von mir“. Grete Hanssen gab Okka das Kind und verschwand leichtfüssig zum Melken. Mama plumpste wie ein Kartoffelsack dumpf in den Lehnstuhl. Der Blick wurde leer bei weit geöffnetem Mund. Der Blutdruck bewegte sich im freien Fall.

In diesem Moment verlor Ommo endgültig seine Schlacht gegen die Erbsensuppe. Die im Mund verbliebene Masse schoss in vier Strahlen zwischen den Fingern und in zwei Fontänen links und rechts der Hand im hohen Bogen über den Tisch. Die Erbsen in der Nase hatten ihre Arbeit getan und dabei neben einem herzhaften Niesen – einige Erbsen landeten jenseits des großen Tisches – noch einen Hustenanfall provoziert der die bereits geschluckten Bauchfleischstückchen wieder hervorbrachte. „Och nööööh, jetzt muss ich das alles nochmal essen“ brummelte Okko während er sich den Mund an seinem Ärmel abwischte.

In den kommenden dreißig Jahren änderte sich die europäische Landkarte häufiger. 1648 entstand in Telgte ein neues Europa. Die Zeit der korrupten Autokraten und machtgeilen Despoten, der lockeren Moral und des Elends der Bevölkerung schien endlich beendet. Kriege wurden noch überflüssiger und – der Weltfrieden brach aus. Mama Poppen hat das alles nicht mehr erlebt. Sie starb 1632 nach einem Adrenalingeschwängerten, langen Leben im Kreise ihrer Kinder und Enkel. Die Eroberung jener seltsamen Insel im Nordwesten überließ sie ihren Nachfahren mit den Worten: „Ich bin zu alt für so einen Sch…“. Das Rezept von Mamas Erbsensuppe jedoch ist erhalten geblieben und bildet bis heute eine Konstante im ostfriesischen Leben.

 

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